Rede von Botschafter Ronald van Roeden beim Treffen der niederländischen Armen-Casse in Hamburg

Aktuelles | 26-03-2022 | 15:05

Botschafter Ronald van Roeden hielt gestern Abend eine Rede bei einem Treffen der niederländischen Armen-Casse in Hamburg. Er sprach über Solidarität, das Kriegsdrama in der Ukraine, Europa als Wertegemeinschaft und Diversität in der Gesellschaft. Die Rede kann unten stehend nachgelesen werden.

Rede von Botschafter Ronald van Roeden beim Treffen der niederländischen Armen-Casse in Hamburg

Botschafter Ronald van Roeden
Abbildung: ©Jasper Kettner

Rede Botschafter Ronald van Roeden vom 25. März 2022

„Dass etwas noch weich werden kann in dieser Welt“, so lautet eine Gedichtzeile des jungen und auch in Deutschland berühmten niederländischen Starautors Marieke Lucas Rijneveld. Die Zeile bezieht sich auf den Anblick von Butter, wenn auch nicht nur auf Butter, und stammt aus dem Text „Kriegerische Zeiten“. Am 3. März wurde er in der niederländischen Tageszeitung „De Volkskrant“ veröffentlicht.

Kriegerische Zeiten, sehr verehrte Herren, ein Dauerzustand. Während meiner gesamten bisherigen Lebenszeit gab es keine Epoche ohne kriegerische Auseinandersetzungen auf der Erde. Niemand von Ihnen hat eine friedliche Erde je erlebt. Und doch dachten wir, im Europa des Nie-mehr, weit weg von Kriegen zu leben. Trotz Sarajevo. Trotz des gelegentlich ziemlich lauten Säbel-gerassels im östlichen Mittelmeerraum. Trotz der Krim. Trotz, trotz, trotz. Wie sagt man? Die Hoffnung stirbt zuletzt. Aber diese eigentlich positive, überlebens-notwendige Eigenschaft kann uns offen-sichtlich auch blind machen.

Kriegerische Zeiten: Sie waren auch der Grund für das Entstehen der Niederländischen Armen Casse in Hamburg. Die organisierte Wohltätigkeit spielte in den Niederlanden des 16. und 17. Jahrhunderts als Vorläufer staatlicher Fürsorge-modelle eine wesentliche Rolle.

Ihre Grundsätze wurden von den Calvinisten bei der Flucht nach Hamburg importiert. Ich muss Ihnen, verehrte Herren, die Geschichte der Organisation, deren Tradition Sie so würdevoll pflegen, nicht erklären. Aber lassen Sie uns in dieser spezifischen historischen Situation noch einmal vor Augen führen, dass die Niederlande sich zu Zeiten des Entstehens der Armen Casse im 80-jährigen Krieg mit den spanischen Besatzern befanden. 80 Jahre Krieg. Selbst wenn wir die 12 Jahre Waffenstillstand abziehen, macht das noch 68 Jahre Krieg. Ganze Generationen kannten nichts als Krieg. Umso beeindruckender ist es, das die Gesellschaft unter diesem Eindruck nicht vollkommen verroht ist.

Beeindruckend ist die Sehnsucht nach Schönheit und Leben, die in der unwahrscheinlich reichen niederländischen Kunst der Epoche zum Ausdruck kommt. Einer meiner Lieblingsmaler aus dieser Zeit, Jan Steen, ist noch bis Ende April in der Ausstellung mit dem zweideutigen Titel „Klasse Gesellschaft“ in der Kunsthalle Hamburg zu sehen. Sein ungeschönter Blick auf menschliche Geselligkeit verbindet diesen Genremaler nicht zuletzt mit der Literatur des zitierten Autors Rijneveld. Bei beiden schreit, durch unterschiedliche Mittel, im Derben das Verletzliche auf.

Zurück in die Zeit des Achtzigjährigen Krieges: Beeindruckend ist darüber hinaus, dass die erfahrene Wohltat der Hamburger Gastfreundschaft von den Kriegsflüchtlingen weitergegeben wurde: in Form von Armenfürsorge. Beachtlich ist auch, dass der Krieg nicht irgendwann zum Normalzustand erklärt wurde. Stattdessen wurde permanent versucht, ihn zu beenden.

Beeindruckend ist, dass es schließlich mit dem Westfälischen Frieden von 1648, der ersten großen internationalen Friedenskonferenz, gelang. Man schlug damals sogar zwei Fliegen mit einer Klappe. Denn, wie wir wissen, wurde gleichzeitig der 30-jährige Krieg beendet.

Auch die Stadt Hamburg spielte eine nicht zu unterschätzende Rolle auf dem Weg dahin. Hier wurde mit dem Hamburger Präliminarfrieden 1641 die Grundlage für die drei Jahre später beginnenden Friedensverhandlungen zu Münster geschaffen.

Damals schon gab es in Europa eine Wertegemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist seitdem gewachsen. Wir leben in Zeiten eines Europäischen Parlaments. In Zeiten, in denen wir sehr, sehr viel Arbeit investieren, um diese Wertegemeinschaft zu organisieren und zu verwalten. Ich kann, als Ex-Brüsseler, ein Lied davon singen. Und gerade weil wir zurzeit erneut lernen müssen, wie verletzlich Werte, wie trügerisch und täuschbar Menschen sind, ist es umso wichtiger, diese Wertegemeinschaft zu pflegen. Umso wichtiger ist es, in ihre Tragfähigkeit zu investieren.

Die Hamburger Armen Casse tut dies auf lokaler Ebene. Und darauf kommt es an. Werte kommen nicht aus dem Nichts. Europa, das in seinem Zusammenhalt vor der bislang schwierigsten Aufgabe seit dem 2. Weltkrieg steht, muss zurzeit beweisen, dass es dieser gewachsen ist. Die Motivation kann letztlich nur aus dem Umfeld jedes und jeder Einzelnen kommen.

Gestatten Sie mir an dieser Stelle eine Bitte: Ich würde mir wünschen, in Zukunft bei Ihnen auch mit und zu Frauen zu sprechen. Die niederländische Diversitäts-maxime rät eigentlich streng von einer Teilnahme an reinen Männergesellschaften ab.

Ich mache heute, aufgrund der auch von meinen Vorgänger:innen sehr geschätzten Einladung zur Jahresversammlung, eine Ausnahme. Aber erlauben Sie mir ein Wort zu meinem Standpunkt: Das Gute an Traditionen gilt es zu erhalten, dem zurecht Überholten sollten wir nicht nachweinen. Es wäre fantastisch gewesen, heute auch die erfolgreichen Hamburgerinnen und ihre Sicht auf Unternehmertum und soziale Fragen kennenlernen zu können.

„Dass etwas noch weich werden kann in dieser Welt“, so staunt der Dichter und Transmann Rijneveld. Und ja, dieses Staunen sollten wir ihm und uns erhalten. Weiche Werte wie Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft schweißen uns in Europa trotz aller Schwierigkeiten, die wir miteinander haben, zurzeit zusammen.

„Solidarität und Hilfsbereitschaft haben in Hamburg eine lange Tradition, auf die wir stolz sein können, und die uns die Gewissheit geben, dass wir für die Zukunft gut gewappnet sind.“, diese optimistischen Worte benutzten Sie, Herr Bürgermeister Tschentscher, aus Anlass des 60-jährigen Gedenkens an die Hamburger Springflut.

Ein weiterer wesentlicher Aspekt, der uns angesichts der Katastrophe von Russlands Angriffskrieg umso klarer wurde: die Qualität der europäischen Zukunft hängt von unserer Energie-Autonomie ab. In dieser Beziehung sind Norddeutschland und die Niederlande, und insbesondere die Städte Hamburg und Groningen, auf dem besten Weg. Die Stichwörter sind hier grüner Wasserstoff und Off-Shore-Windenergie. Die aktuelle Situation bestätigt uns in unseren Bemühungen der letzten Jahre. Mit gebündelten Kräften können wir hier, wenn auch erzwungen, aktuell den Durchbruch erreichen.

Dass wir in Bezug auf nachhaltig produzierte, freiheitliche Energie nun in beiden Ländern stark ambitionierte Kabinette haben, dürfte ein weiterer wesentlicher Push-Faktor sein.

In den letzten Monaten wurden wesentliche Schritte unternommen: Am 22. Dezember 2021 unterzeichneten die Städte Hamburg und Groningen eine Absichtserklärung. Darin wird vereinbart, die wirtschaftlichen und ökologischen Möglichkeiten der Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie in der gesamten Kette in enger Zusammenarbeit zu entwickeln.

Meine Herren, Hamburg und Groningen, dieses dream team, ist zukunftsfähig. Es steht darüber hinaus für das Potential der gesamten Region Nord-Deutschland, Nord-Niederlande, sowie Nordsee und Nordsee-Anrainer. Um die gesamte Wertschöpfungskette von der Wasserstoffherstellung über die Speicherung bis zum Transport effizient und zeitnah umzusetzen, braucht es zweifellos die Zusammenarbeit der gesamten grenz-übergreifenden Region, sowie die Zusammenarbeit zwischen Meer und Land, zwischen Ökologie und Ökonomie. In dieser Beziehung können unsere Länder an den maßgeblichen Gründungsgedanken der EU als gemeinsamen Energiewirtschaftsraum anknüpfen – nur dieses Mal mit regenerativer Energie statt mit Kohle. Schon Jules Vernes wusste schließlich: „Wasser ist die Kohle der Zukunft“.